Gestern jährte sich der Geburtstag von Friedrich dem Großen zum 300sten Mal. Dieses Ereignis ist in der Presse und im Fernsehen ausreichend erörtert worden. Bevor ich zum eigentlichen Thema komme, hier mein nachträglicher Beitrag zum Geburtstag: Ich habe vor einigen Jahren ein kleines Buch gelesen, in dem Anmerkungen und Entscheidungen festgehalten waren, die der Preußenkönig auf Akten hinterlassen hat. In Erinnerung geblieben sind mir zwei Fälle. Einmal beklagte sich eine Gemeinde, daß Ihr Pastor nicht an die Auferstehung am jüngsten Tag glauben würde und bat um dessen Ablösung. Friedrich II beschied das Ersuchen abschlägig, indem er mitteile, der Pastor bleibt, und wenn er nicht an die Auferstehung am jüngsten Tage glauben würde, könne er liegen bleiben. Pragmaisch auch der Hinweis im Falle eines Kavalleriesoldaten, der Unzucht mit seinem Pferd getrieben haben soll: „Versetzt den Kerl zur Kavallerie“.
Ich hatte gestern die Gelegenheit, in Flensburg im Großen Schwurgerichtssaal einen Vortrag von Dr. Norbert Haase zum Thema Militärjustiz im Dritten Reich zu hören.
Die Militärgerichtsbarkeit wurde 1934 eingeführt. Unter dem Einfluß der schriftlichen Erlasse wie der Kriegssonderstrafrechtsverordnung und ungeschriebener Vorgaben kam es im Laufe der Zeit zu einer schleichenden Radikalisierung der Spruchpraxis. Insbesondere nach der Niederlage in Stalingrad wegen Wehrkraftzersetzung und Fahnenflucht deutlich zu. Eine sprunghafte Verschärfung der Spruchpraxis erfolgte nach dem Attentat vom 20. Juni 1944. Ab 1944 galt für Fahnenflucht auch die Sippenhaft. Nicht nur bei Standgerichten wurden die Rechte des Angeklagten massiv eingeschränkt, ein Verteidiger war zu Ende des Krieges ebenso wenig erforderlich wie die Bestätigung des Urteils durch den Gerichtsherrn. Todesurteile konnten sofort vollstreckt werden.
Öffentliche Hinrichtungen waren allerdings bis kurz vor Kriegsende unüblich. Sie hätten zum Einen auf Ablehnung in der Bevölkerung führen können, zum Anderen wurde die Gefahr gesehen, daß hierdurch Zweifel an der Zuverlässigkeit der Wehrmacht geweckt worden wären.
Insgesamt gab es vermutlich zwei bis drei Millionen Militärgerichtsverfahren mit ca. 500.000 Verurteilungen. Für Fahnenflucht wurde die Todesstrafe ca. 30.000 Mal verhängt und 20.000 Mal vollstreckt. Zum Vergleich: Im ersten Weltkrieg wurden 150 Todesurteile gefällt, von denen 48 vollstreckt wurden. Die Verschärfung der Spruchpraxis läßt sich an folgenden Zahlen ablesen:
Als durchschnittliche Zahl der Todesurteile pro Monat wurden genannt:
1939: 29 (vermutlich ab September)
1944: 526
Die durchschnittlichen Zahlen für den Monat Juni wurden wie folgt angegeben:
1941: 79
1942: 274
1943: 278
1944: 371
Hinzu kommen ca. 40.000 bis 60.000 Morde an mutmaßlichen Deserteuren, Fahnenflüchtigen und Wehrkraftzersetzern, die vor dem endgültigen Zusammenbruch vorwiegend durch SS-Angehörige ohne jegliches Verfahren verübt wurden.
Professor Paul von der Universität Flensburg ergänzte, daß fliegende Standgerichte noch bis zum 20. März 1945 im Raum Angeln tätig waren.
Als eine Erklärung wurde eine Sondervariante der Dolchstoßlegende benannt. Der Militärführung rechnete man offenbar eine Mitschuld an dem Zusammenbruch der militärischen Ordnung am Ende des ersten Weltkrieges zu, da sie nicht energisch genug eingeschritten ist. Keinesfalls sollten sich Vorgänge wie im November 1918 wiederholen.
Die allgemeine Totalisierung des Krieges dient nicht als Erklärung. Die Anzahl der auf amerikanischer und britischer Seite vollstreckten Todesurteile wegen Fahnenflucht ist im Vergleich zu den deutschen Zahlen verschwindend gering.
Anders sieht es mit den Zahlen auf Seiten der Roten Armee aus. Wirklich belastbare Zahlen liegen hier offenbar nicht vor, nach seriösen Schätzungen wurden auf sowjetischer Seite vermutlich 140.000 Todesurteile an Soldaten vollstreckt.
Es ist natürlich sehr leicht, aus der heutigen, bequemen und sicheren Lage heraus mit all den Erkenntnissen der jahrzehntelangen Forschung sowie unter Berücksichtigung der vielfältigen gesellschaftlichen Änderungen über die Akteure der damaligen Zeit zu urteile. Völlig unabhängig von der persönlichen Verstrickung und Schuld des Einzelnen machen die Zahlen – besonders im Vergleich mit denen der Westalliierten, aber deutlich, daß die Militärjustiz im Dritten Reich – wie auch in der Sowjetunion –Teil eines Unterdrückungsapperates war, der über Angst und Schrecken, also Terror, ein systemkonformes Verhalten Andersdenkender erzwingen und – im Fall des Dritten Reiches – den Zusammenbruch hinauszögern sollte. Die einfache Wahrheit: „Was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein“ entpuppt sich als schlechte Ausrede.