Rückkehr des maritimen Jahrhunderts?

Notizen zum Vortrag „Rückkehr des maritimen Jahrhunderts“
von Prof Marsala am 22. Februar 2023 im Rahmen der Wintervorträge an der Marineunteroffizierschule in Plön

Ich habe am Mittwoch einen hoch interessanten Vortrag von Professor Marsala gehört. Während des Vortrages habe ich mir auf meinem Handy ein paar Notizen gemacht. Abkürzungen habe ich ausgeschrieben sowie ein paar Substantive und Verben eingefügt, um zumindest im Ansatz ganze Sätze zu bilden. Das soll jetzt auch keine Nacherzählung sein, sondern eher eine erweiterte Punktuation.
Meine Überlegungen zu einzelnen Aspekten habe ich in Anmerkungen gefasst, die ich an das Ende des Beitrags gesetzt habe.
Los geht’s:


Die Begriffe „Maritim“ und „Seemacht“ sind nicht gleich.
Maritim ist alles, was auf und unter dem Wasser passiert. (Anmerkung 1)
Seemacht als Machtprojektion ist ein militärischer Aspekt. Sie umfasst die Fähigkeit zur schnellen Machtprojektion in entfernten Regionen und die Verfolgung nationaler Interessen.
Signaling (Anmerkung 2)

Seemacht wird im 21. Jahrhundert eine andere Rolle spielen als in den letzten 30 Jahren. (Anmerkung 3)

Deutschland nimmt sich selbst als Landmacht wahr.
Es gibt einen heereslastiger Blickwinkel.
Der Kalte Krieg wird in DEU als Landkonflikt gesehen, von den anderen NATO-Nationen aber überwiegend als Seekonflikt wahrgenommen.
Das A in Nato steht für Atlantik.

Im weiteren Verlauf dazu: Das Sondervermögen Bundeswehr beträgt effektiv nicht 100 Milliarden, sondern um Kreditzinsen, Inflation ect. bereinigt 87 Milliarden. Die sich daraus ergebenden Streichungen gingen überwiegend zu Lasten der Marine.

Verkürztes strategisches Denken in DEU, Internationales Krisenmanagement (IMK)  wird in der Bundeswehr eher als Ballast angesehen. Notwendiges Übel, um den temporären Sitz im UN-Sicherheitsrat begründen zu können und weitergehend eine ständigen Sitz zu beanspruchen. (Anmerkung 4)

Seemacht im derzeitigen Ukrainekrieg:

z.B. Getreideexport, Russland blockiert Getreidelieferungen aus der Ukraine und schiebt „dem Westen“ die Verantwortung dafür zu. Russland stellt sich bei den auf Lebensmittellieferungen angewiesenen Staaten als einer von den Guten dar.  (Anmerkung 5)

Revisionistische Mächte stehen Status Quo Mächten gegenüber
(Russland-China) vs (EU-USA-Japan-Australien)

Chinas Bestreben ist die Kontrolle von Seeräumen.

Es kann die regionale Hegemonie nur erreichen, wenn die USA aus dem Westpazifik und angrenzenden Seengebieten verdrängt werden kann.
Langziel ist die globale Hegemonie.

Je mehr Seemacht, je mehr politische Bedeutung.

Selbstverständnis der USA: “Stopping Power of Water”
Senator Knox 1919.
Das Territorium der USA war vor der Einführung von Langsteckenbombern und Interkontinentalraketen von außen nahezu unangreifbar.
Auch heute ist es zwar zu zerstören, aber vermutlich nicht zu besetzen.
Strategische Zielvorstellung der USA: Verhinderung, dass ein Hegemon am gegenüberliegenden Ufers des Atlantik oder Pazifik entsteht.
Bezeichnend dafür: Kriegseintritt USA 1. und 2. Weltkrieg, als sich abzeichnete, dass sich an der Gegenküste ein anderer Hegemon etablieren könnte, sowohl in Europa wie auch in Japan. 

Damit der andere den Fuß nicht in die Tür stellt, stellt man ihn selber in die Tür, um strategisches Vakuum zu füllen. Derzeitiges Vorgehen Chinas, aber auch Russlands in Afrika, um sich den Zugriff auf Rohstoffe zu sichern. 

Die Herausforderung im Bezug auf Russland sind ein rein nukleares Problem;
im Bezug auf China haben sie mehrere Dimensionen.
Die Europäischen Staaten tuen zu wenig, um den Herausforderungen zu begegnen.

Symbolischer Schulterschluss mit USA durch Beteiligung im IndoPazifik, um zu zeigen, dass DEU die Gefährdungseinschätzung der USA teilen, um allianzfähig zu bleiben.

Genereller historischer Trend: Wirtschaftlicher Erfolg, der dann militärisch absichern werden muss, daraus entwickeln sich Hegemonieinteressen.

Ukraine ist nicht Taiwan, Situation ist nicht vergleichbar.

Macron, Scholz, Johnson, Biden haben unmittelbar vor dem Einmarsch Russlands den NATO Beitritt gegenüber Putin ausgeschlossen.
Danach Russland mit überzogenen Forderungen und anschließender Gewaltanwendung
Erst danach massive Unterstützung der Ukraine durch den Westen.

Xi auf Parteitag: regionale Konflikte sind nicht leicht zu gewinnen, daraus implizit abgeleitet der Auftrag an das eigene Militär, aus Fehlern der Russischen Armee in der Ukraine zu lernen und im Bezug auf ein mögliches Vorgehen gegen Taiwan ansprechende Vorbereitungen treffen.
Die Fähigkeit, Taiwan zu besetzen, könnte 2025 erreicht sein.

WU kündigt Friedensplan an.
Chinas möglicher Friedensplan könnte so aussehen:
USA geben Taiwan auf und lösen das Chinesische Problem,
Russland gibt im Gegenzug die Ukraine auf und löst das „Westliche“ Problem

Ausführungen zu einer Frage nach einer Europäischen Armee:
EU Armee eher unwahrscheinlich und auch problematisch. 2/3 Mehrheit in Brüssel für einen Militäreinsatz auch deutscher Soldaten gegen Deutsche Interessen birgt innenpolitischen Sprengstoff.
Spezialisierung einzelner Staaten auf einzelne Teilstreitkräfte oder militärische Fähigkeiten wird zumindest von Deutschland und Frankreich nicht mitgetragen, weil das eigene Machtverständnis das nicht zuläßt. 
Wahrscheinlichste Option: EU Streitkräfte fähig, eigene Operationen zu führen, bleiben aber auch Mitglied der NATO, stehen nicht in Konkurrenz zur NATO.

Meine Anmerkungen:

Anmerkung 1: Der Begriff greift zu kurz. Aus meiner Sicht gehören auch der Luftraum über dem Meer und der Meeresboden mit den darin ruhenden Bodenschätzen dazu. 

Anmerkung 2: Signaling ist nach meinem Verständnis synonym mit den englischen Begriffen „Demonstration“ und „Showing the Flag“, aber Seemacht geht weit über Flaggezeigen hinaus und schließt die Anwendung von militärischer Gewalt von See an Land einschließlich amphibischer Operationen mit ein.

Anmerkung 3: Diese Äußerung ist auch aus meiner Sicht richtig, greift aber in Verbindung mit dem Titel des Vortrages zu kurz. Das letzte Jahrhundert war kein maritimes Jahrhundert, das abgeschossen wurde und nun zurückkehrt. Wir leben seit gut 500 Jahren in einer Maritimen Epoche, beginnend mit der Kolonialisierung Südamerikas, Afrikas und Asiens. Seither gehen globale Handelsinteressen Hand in Hand mit deren militärischer Absicherung auf See, also Seemacht. Die Europäischen Staaten, später auch die USA sowie Japan und Australien, konnten sich aufgrund überlegener Technik (Segelschiffe, später Dampfschiffe, heute auch andere Antriebe) ausgerüstet mit überlegener Artillerie oder später auch modernerer Fernwaffen und Seeluftstreitkräfte) gegen jede andere Handels- und Seefahrtsnation durchsetzen. Bei einer derartigen Betrachtung endete die „Epoche Vasco da Gama“ (der indische Staatsmann und Historiker K. M. Panikkar hat diesen Begriff geprägt, bezieht sich aber auf Asien und läßt Süd- und Mittelamerika ebenso außer Acht wie Afrika) nicht mit der Dekolonialisierung Asiens nach dem Zweiten Weltkrieg. Somit wären die letzen 30 Jahre nur „Wetter“ im Vergleich zu 500 Jahren „Klima“.

Anmerkung 4: Ich hatte vor einigen Jahren die Gelegenheit, einen ehemals einflußreichen Politiker in einem persönlichen Gespräch zu erleben. Er wollte namentlich nicht genannt werden, bezeichnete dann das deutsche Streben nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat als illusorisch und benutzte das schöne Wort: Großmannssucht. 

Anmerkung 5: Viel entschiedener im Hinblick auf Seemacht ist der Marinestützpunkt Sevastopol auf der Krim. Sevastopol ist ein Heimathafen der Russischen Flotte. Er ist der einzige Hafen „am warmen Wasser“ (Prof Marsala nutzte diesen Begriff später unter Bezug auf Karl Marx, der gesagt hat, Russland ohne Zugang zum warmen Wasser sei wie ein Riese ohne Augen.“
Der Marinestützpunkt Murmansk liegt hoch im europäischen Norden, Überwassereinheiten der Russischen Marine müssen sich zwischen der Nordspitze Norwegens und dem Polareis „durchquetschen“. Der Marinestützpunkt Wladiwostok liegt an der Pazifikküste, von der freien See durch die Japanischen Inseln getrennt, beide Stützpunkte sind weit ab vom Schuss.
Die Einheiten in Sevastopol auf der Krim sind die Einheiten, die schnell in das Mittelmeer und von dort aus in den Indischen Ozean oder Atlantik verlegt werden können. Der Syrische Marinehafen Tartus ist für die Zwischenversorgung von Kampfschiffen auf dem Weg in den Indischen Ozean von großer Bedeutung. Als logistischer Abstützpunkt ist er für länger anhaltende Einsätze im Mittelmeer ebenso unerläßlich wie die russischen Luftwaffenstützpunkte in Syrien. Seekrieg wird in der Luft gewonnen, ein in Deutschland mehr und mehr in Vergessenheit geratener Merksatz.
Das das für mich der entscheidende Aspekt im Bezug auf Seemacht in Verbindung mit der Besetzung der Krim 2014 wie auch die uneingeschränkte russische Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien.

Alles in allem ein hoch interessanter uns sehr „spannend“ gehaltener Vortrag, der leider Indien außer Acht ließ. Indien baut – ebenso wie China, nur nicht so schnell und erfolgreich – seine Marinestreitkräfte auf, um seine Einflußzone im Indischen Ozean abzusichern. Beide Atommächte haben einen ungelösten Grenzkonflikt im Himalaya. Beide dehnen ihre maritimen Einflußzonen aus. Die Grenzen der maritimen Einflußzonen werden mehr und mehr aufeinandertreffen. Ich würde vermuten, dass der Aspekt Seemacht in 30 Jahren auch im Verhältnis der beiden Milliardenvölker eine zunehmende Rolle spielen wird. Das Konzert der Seemächte wird im laufenden Jahrhundert im asiatischen Raum spielen.
Eine Bewertung der Folgen, die sich langfristig daraus ergeben könnten, wäre durchaus noch interessant gewesen.