Wenn ein fehlinterpretierter Freiheitsbegriff zum ideologischen Schlagwort wird

Anstoß dieses Beitrages ist ein Interview, das Herr Bundesverkehrsminister Wissing gestern, am 21. Juni 23 im Deutschlandfunk zum neuen Straßenverkehrsgesetz gegeben hat.

Vielleicht zur besseren Einordnung vorweg ein Zitat von der Internetpräsenz des Bundesministerium für Verkehr und Digitales (https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/Pressemitteilungen/2023/059-wissing-aenderung-stassenverkehrsgesetz.html):

“Das Straßenverkehrsgesetz setzt einen Rechtsrahmen, innerhalb dessen die Bundesministerien mit Zustimmung des Bundesrates Verkehrsregeln und Maßgaben für die den Verkehr regelnden Behörden der Länder in Form von Verordnungen aufstellen können. Es enthält keine konkreten Verkehrsregeln und auch keine unmittelbaren Maßgaben für die Behörden, die das Verkehrsrecht vor Ort umsetzen.

Der Gesetzentwurf hat das Ziel, den Ermächtigungsrahmen des Verordnungsgebers zum Erlass konkreter straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften (z. B. Vorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung) zu erweitern. Es wird eine neue zusätzliche Ermächtigungsgrundlage geschaffen, die zum Erlass von Verordnungen berechtigt. Danach können zukünftig Verordnungen und darauf fußende Anordnungen der Behörden vor Ort – ausschließlich – zum Zweck der Verbesserung des Umwelt- und Klimaschutzes, zum Schutz der Gesundheit oder zur Unterstützung der städtebaulichen Entwicklung erlassen werden. Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs sind dabei stets zu berücksichtigen.”

Das klingt erst einmal plausibel und nicht schlecht. Die angegebenen Bereiche:
– Verbesserung des Umwelt- und Klimaschutzes
– Schutz der Gesundheit
– Unterstützung der Städtebaulichen Entwicklung
sind aus meiner Sicht tatsächlich sinnvoll gewählt. Die Regelungen im Detail sind dann in der Straßenverkehrsordnung festzulegen.

Jetzt muss der Gesetzentwurf im Bundestag und Bundesrat beraten und beschlossen werden. Erst dann kann z.B. die Straßenverkehrsordnung auf Basis des Straßenverkehrsgesetzes geändert werden. Noch ist nichts in trockenen Tüchern und bis zur Änderung der Straßenverkehrsverordnung wird noch etwas Zeit ins Land gehen.

So weit, so gut. Das ist alles nachvollziehbar und läuft in geordneten Bahnen. Vielleicht wird das Ergebnis ja gar nicht so schlecht wie manche auf den ersten Blick befürchten.

Leider scheinen die Befürchtungen aber nicht völlig aus der Luft greifen zu sein, wenn man sich das Interview des Deutschlandfunks mit Herrn Bundesminister Wissing am gestrigen Tage anhört.

https://www.deutschlandfunk.de/wo-steht-die-verkehrswende-interview-mit-volker-wissing-fdp-verkehrsminister-dlf-766f7732-100.html

Was für eine schwache Argumentationslinie, die sich windet wie ein Aal. Herr Minister Wissing scheint unterschwellig zu unterstellen, dass seine politischen Mitstreiter*innen und Gegner*innen die Diskussion um CO2 Emissionen zu einem Kampf „Mobilität oder Klimaschutz“ verkürzen. Das tut fast niemand.
Damit nicht genug. Nach meiner Auffassung unterstellt er der Initiative “Lebenswerte Städte durch angepasste Geschwindigkeit” eine Missachtung des Grundgesetzes. Die Frage nach einem Tempolimit, also dem Ergebnis einer Abwägung der Rechtsgüter „Mobilität“, Klimaschutz und Lärmschutz beantwortet er eindeutig mit dem Argument:

Herr Verkehrsminister Wissing:
„… das Klimaschutz zum Preis des Verlustes der Mobilität kein attraktives Angebot ist. So etwas ist auch nicht mehrheitsfähig in einer freien und offenen Gesellschaft, übrigens weltweit nicht.“

Da niemand die Abschaffung der Mobilität gefordert hat vermute ich, dass der damit ein Tempolimit auf Autobahnen und die Möglichkeit meint, den Städten die Entscheidung über Tempo 50 oder Tempo 30 zu übertragen. Damit befinden wir uns in einer Auseinandersetzung die auf beiden Seiten ideologisch verhärtet ist.

Weltweit gibt es in freien und offen geprägten Ländern Tempolimits auf Autobahnen.
Vielleicht weiss der Verkehrsminister es nicht besser, wer weiß.
In Europa gibt es, außer in Deutschland, kein einziges Land, in dem es kein Tempolimit auf Autobahnen gibt. Auch die USA, Land der unbegrenzten Möglichkeiten, kennt Tempolimits.
Als einzige Länder ohne Tempolimits auf Autobahnen nennt die Seite HEY.CAR: Haiti, Somalia, Libanon, Nepal, Myanmar, Mauretanien, Burundi, Bhutan sowie die indischen Bundesstaaten Vanuatu, Pradesh und Uttar. (https://hey.car/magazine/laender-ohne-tempolimit)

Für mich entsteht der Eindruck, dass der Verkehrsminister aus rein ideologischen oder vielleicht auch aus parteipolitisch-populistischen Gründen daran festhält, auf Autobahnen kein Tempolimit einzuführen zu wollen und eine Absenkung der Geschwindigkeitsbegrenzung in Städten von 50 auf 30 so schwer wie möglich zu machen oder so weit wie möglich zu verhindern.

Meine Einschätzung: Bei der Tempo 30 – Diskussion geht es nicht um die Abschaffung des “Grundrechtes auf Mobilität” (also der grundgesetzlich garantierten Freizügigkeit, wenn ich das richtig verstanden habe. Ein ausdrückliches Grundrecht auf Mobilität konnte ich im Grundgesetz nicht finden.)
Es geht darum, dass der Bund das Recht an die Städten und Gemeinden überträgt, selber festlegen zu dürfen, wo auf Durchgangsstraßen Tempo 50 und wo Tempo 30 gilt.
Das ist den Städten und Gemeinden jetzt im Wesentlichen verboten und es bleibt wohl auch mit den oben genannten Ausnahmen verboten.
Lediglich bei den Ausnahmen, die den Städten und Gemeinden für ihre Entscheidung zugebilligt werden, wird jetzt eine Beteiligung möglich sein.

Besonders empörend finde ich in dem Zusammenhang, dass der Herr Verkehrsminister Wissing der Initiative: „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ unterstellt, mit einem flächendeckenden Tempo 30 gegen das Grundgesetz verstoßen zu wollen.
811 Städte haben sich der Initiative angeschlossen, auch die Stadt Plön.
Die Initiative fordert das Entscheidungsrecht für Städte und Gemeinden, aber anders als unterstellt, nicht flächendeckend Tempo 30. Das ist ein großer Unterschied.
Schlagwortalarm: Freiheitseinschränkung wegen Bürokratieabbau.
Ich für mich weise das als vernunftbeleidigend zurück.

Herr Verkehrsminister Wissing:
Weil unsere Verfassung hier klar entgegen steht.“ … 

„.. Eingriffe in die Freiheit der Bürger, dass die verhältnismäßig sein müssen, geeignet, erforderlich und angemessen.“

„…aber dass der Staat sich hinstellt und sagt, ich möchte mir nicht mehr die Mühe machen, Freiheitseingriffe zu begründen, weil ich das als Bürokratie empfinde, mit Verlaub, dieses Argument der Kommunen kann ich weder nachvollziehen noch ansatzweise akzeptieren. Es ist eine Kernaufgabe des Staates, Freiheitseingriffe gegen den Bürger zu begründen, das verlangt das Grundgesetz.“

„… was wir ausdrücklich nicht machen werden ist flächendeckend Tempo 30. Und die Kommunen werden auch künftig die Einschränkungen begründen müssen, denn die Regelgeschwindigkeit bleibt Tempo 50 und eine Ausnahme muss begründet werden und die muss  auch auf der Grundlage eines Gesetzes begründbar sein. Das verlangt der Verfassungsstaat und dabei bleibt es.“

Niemand hat einen Verfassungsbruch gefordert. Darum halte ich diese Argumentationslinie für falsch und die damit verbundene Unterstellung für völlig unangemessen.
Im Gegenzug habe ich die Befürchtung, dass der Entscheidungsspielraum der Städte und Gemeinden durch die noch ausstehende Umsetzung des Straßenverkehrsgesetz in die Straßenverkehrsordnung auf Null reduziert wird und alles beim Alten bleibt.

Es geht um mehr Entscheidungsfreiheit für die Städte und Gemeinden. Die Freiheit, die gemeint ist, scheint für Herrn Verkehrsminister Wissing aber ein rotes Tuch zu sein. Niemand will und wird die Städte und Gemeinden davon entbinden, rechtssichere Entscheidungen zu treffen, wenn sie für Teilstrecken Tempo 30 festlegen.
Gesetzliche Grundlagen, die den Städten und Gemeinden die entsprechende Entscheidungsfreiheit einräumen, stehen der Verfassung mit Sicherheit nicht entgegen.
Sie würden aber im neuen Straßenverkehrsgesetz – von den oben genannten Ausnahmeregelungen abgesehen -so weit wie möglich verhindert.


Außerdem:

Die einzelnen Bundesministerien haben die Verpflichtung, in ihrem Verantwortungsbereich für CO2 Einsparungen zu sorgen. Die bestehende Regelung ist sehr starr und eine flexiblere Handhabung ist in Anbetracht der Komplexität des Themas kann sinnvoll sein, wenn die Regelung durch “Flexibilität” nicht unterlaufen wird.
Die Einsparungen und Überschreitungen können zukünftig gegeneinander aufgerechnet werden und für Maßnahmen zur Einhaltung der Grenzen sind zwei Jahre vorgesehen.

Das Verkehrsministerium überschreitet die derzeit bestehenden Vorgaben deutlich.

Die Journalistin des DLF konfrontiert den Herrn Verkehrsminister mit folgender Aussage:

DLF: „…, selbst nach Berechnungen der Bundesregierung wird Deutschland bis 2030 im Verkehrssektor einen Emissionsüberschuss von bis zu 175.000 Mio Tonnen CO2 anhäufen. … Wie wollen sie das denn den jüngeren Generationen erklären, dass Sie deren Freiheit gefährden?“

Herr Verkehrsminister Wissing:
„Wichtig ist, dass wir vor allem die Freiheit schützen, mobil zu sein, …“

Ich erwarte eigentlich, dass ein Minister die Verantwortung für das trägt, was in seinem Ministerium passiert. Offenbar liege ich da nicht ganz falsch.

Herr Verkehrsminister Wissing:
„Ich habe als Bundesverkehrsminister die Verantwortung, dass wir unsere Klimaziele einhalten, …“

Der Herr Verkehrsminister versucht dann aber, die Verantwortung für das Versagen beim Erreichen der Einsparziele auf jeden einzelnen von uns abzuladen. Mir wäre ein solch hilfloser Versuch peinlich, dem Herrn Verkehrsminister mutmaßlich nicht:

Herr Verkehrsminister Wissing:
„Der Klimaschutz ist eine Gesamtaufgabe der Regierung, ich würde sagen, eine Gesamtaufgabe der Gesellschaft und es ist ja nicht das Verkehrsministerium, dass Klimaziele reißt, es ist die Gesellschaft insgesamt, jeder Einzelne, der mobil sein muss, jede Einzelne, die mobil sein muss, … .“


Einen anderen Satz, den der Herr Minister Wissing sagt, könnte ich aber sofort unterschreiben. 

Herr Verkehrsminister Wissing:
„ Es gibt nicht das Eine statt dem Anderen, sondern wir müssen klug abwägen, … indem wir Klimaschutzziele ehrgeizig angehen und gleichzeitig die Gesellschaft mobil halten.“

Genau darum geht es. Es geht um die Abwägung der Belange des Verkehrs, also des gesamten Verkehrs, nicht nur des Autoverkehrs, sondern des Verkehrs, einschließlich von Fußgänger*innen und Radfahrenden und des ÖPNV, des Fernverkehrs und auch des Lieferverkehrs, mit anderen Rechtsgütern. Zu nennen wären zum einen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art 2.2 Grundgesetz), das durch Verkehrslärm beeinträchtigt werden kann, zum anderen die Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen, die den Staat auch zum Schutz der Lebensgrundlagen verpflichtet. Das ergibt sich aus Art 20a Grundgesetz.

Leider scheint Herr Minister Wissing die Bedeutung des Autoverkehrs in diesem Abwägungsprozess deutlich überzubewerten. Die Berücksichtigung der anderen Rechtsgütern kommt da möglicherweise etwas zu kurz. 

Herr Verkehrsminister Wissing:
„ Wir reden über ein Straßenverkehrsgesetz und dass in einem Straßenverkehrsgesetz sich der Verkehr unterordnet, das stellt ja wirklich die Sache auf den Kopf, und deswegen mach ich das auch nicht mit.“

Nach meiner Meinung benutzt der Herr Minister die Begriffe wie Freiheit und Mobilität als Schlagworte. Tatsächlich scheint es mir um gelebte Klientelpolitik zu gehen, die in populistischer Weise dem überkommenen ADAC-Motto folgt: „Freie Fahrt für Freie Bürger“.
Der Rest ist Scheindebatte. 

Herr Minister Wissing wirft seinen politischen Gegenspieler*innen vor:

Herr Verkehrsminister Wissing:
„Scheindebatten, die mit Schlagwörtern arbeiten, hinter denen sich nicht viel verbirgt.“
„ … dass man ein so komplexes Thema immer auf solche Schlagwörter reduziert, obwohl man eigentlich wissen kann, dass hinter diesen Schlagwörtern sich eigentlich nichts als heiße Luft verbirgt.“


Meine Meinung: er selber hat einen substantiellen Beitrag zur Scheindebatte geleistet. 

Jetzt kommt es im weiteren Gesetzgebungsverfahren darauf an, dass die Bundesländer die Position der Städte und Gemeinden stärken, ihre Fachkompetenz zu nutzen und Verkehrsregelungen in ihrer eigenen Verantwortung zu treffen. Für Plön würde das bedeuten, auf dem Schulweg zwischen Breitenaustraße und Stetiger Straße und vor der Kita in der Rautenbergstraße endlich Tempo 30 einzuführen. Einen entsprechenden Beschluss der Ratsversammlung gibt es seit Jahren.
Auch die Umsetzung des Lärmaktionsplanes zum Schutz der Anwohner*innen vor Straßenlärm wird durch die derzeit bestehenden Regelungen blockiert.