Ich hatte bereits Anfang Juli, 100 Jahre nach den Attentat auf den österreichischen Thronfolger, über die diplomatischen Vorgänge geschrieben, die letztendlich zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führen sollten. Heute vor 100 Jahren erklärte Österreich – Ungarn Serbien den Krieg und setzte damit eine verhängnisvolle Spirale in Gang.
Die weiteren österreichisch-ungarischen Überlegungen wurden durch das bevorstehende französisch-russische Gipfeltreffen in St.Petersburg (später Leningrad) bestimmt. Der österreichisch-ungarische Außenminister Berchtold wollte auf jeden Fall vermeiden, daß das Ultimatum bekannt gemacht wird, wenn sich der französische Präsident Poincare in der russischen Hauptstadt aufhält. So sollte vermieden werden, daß die beiden Verbündeten auf höchster Ebene schnell zu einer gemeinsamen und abgestimmten Position kommen.
Eine Seereise von der französischen Kanalküste nach St. Petersburg nahm seinerzeit ca. fünf Tage in Anspruch. Das Eintreffen der französischen Delegation war für den 20. Juli vorgesehen. Ein österreichisch-ungarisches Ultimatum mit einer 48-stündigen Laufzeit hätte also bereits am 18. Juli abgegeben werden müssen, um eine russisch-französische Abstimmung unmöglich zu machen.
In Anbetracht der Tatsache, daß sich noch Teile der österreichisch-ungarischen Truppen im Ernteurlaub befanden und die Zeit für die Mobilmachung auch noch hinzukommen würde, wurde dieser Zeitplan verworfen.
Berchtold ging weiterhin davon aus, daß die französische Delegation St. Petersburg am 25. Juli wieder verlassen wird. Daher wurde beschlossen, daß Ultimatum an Serbien erst abzugeben, wenn die französische Delegation wieder an Bord und auf der Seereise nach Frankreich ist. Dieser Plan hatte zudem den Vorteil, daß Frankreich und Rußland so keine Zeit und noch weniger Gelegenheit hätten, sich abzustimmen. Voraussetzung für das Funktionieren des Planes war eine strikte Geheimhaltung.
Weiterhin ging man auf deutscher und österreichisch-ungarischer Seite davon aus, den Krieg auf Österreich-Ungarn und Serbien begrenzen zu können.
Es war Berchthold selber, der die Geheimhaltung brach. Er hatte Graf Heinrich von Lützow eingeladen, am Montag, dem 13. Juli an einem Gespräch mit dem deutschen Botschafter Tschirschky und dem östereichisch-ungarischen Unterstaatssekretär Graf Johan von Forgach teilzunehmen. Lützow war von 1904 bis 1910 österreichisch-ungarischer Botschafter in Italien und wurde anschließend in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Er war ein enger Freund Berchtholds. Der Grund, Lützow hinzuzuziehen war vermutlich, sich einen unabhängigen Rat von ihm einzuholen.
Lützow warnte, daß die Vorstellung, einen Konflikt mit Serbien „lokalisieren“, also örtlich begrenzen zu können, ein reines Phantasieprodukt sei.
Es ist nicht klar, ob Berchthold Lützow zu Stillschweigen verpflichtet hat. Lützow kehrte auf seinen Landsitz zurück. Auf einem benachbarten Landsitz residierte der britische Botschafter in Wien, Sir Maurice de Bunsen, mit dem Lützow freundschaftlich verbunden war. Am 15. Juli trafen sich beide zu einem gemeinsamen Mittagessen. Lützow erläuterte, daß man Serbiens Unverschämtheiten nicht länger dulden werde und nach Abschluß von Untersuchungen eine Note übergeben werde. Sollte Serbien nicht nachgeben, würde man Gewalt anwenden, um es zu zwingen.
Über die Motivation Lützows, diese Informationen an die Briten zu geben, kann nur spekuliert werden.
Der britische Botschafter informierte am Folgetag seinen Außenminister Sir Edward Grey, daß eine Art Anklageschrift gegen die serbische Regierung vorbereitet würde wegen der Beteiligung an einer Verschwörung, die zur Ermordung des Erzherzogs geführt habe. Deutschland hätte den österreichisch-ungarischen Absichten bereits zugestimmt.
Am Folgetag machte Bunsen einen Termin mit Berchthold, um weitere Informationen einzuholen bzw. um die vorhandenen Informationen zu verifizieren. Berchthold ist auf das Thema aber nicht eingegangen.
In einem Gespräch mit dem italienischen Botschafter soll dieser gegenüber Bunsen geäußert haben, daß er sich nicht vorstellen könne, daß man Serbien unzumutbare Forderungen stellen würde, da weder der furchtsame Berchthold nach der vorsichtige Kaiser Franz Joseph eine solch unkluge Vorgehensweise gutheißen würde. Mit der Information der Italiener sollte das Thema bald ein offenes Geheimnis sein.
Am 16. Juli 1914 sprach der britische Botschafter mit dem russischen Botschafter in Wien, Nikolei Schebeko. Dabei erfuhr Schebeko, daß es im österreichisch-ungarischen Außenministerium ein Gespräch zwischen Berchthold und Forgach gegeben habe, bei dem es um die Formulierung einer scharfen Note an Serbien ging. Diese Note sollte drastische Forderungen enthalten, die für einen souveränen Staat nicht akzeptabel sind.
Schebeko informierte umgehend den russischen Außenminister Sergei Sasonow mit der Bitte, dem Wiener Kabinett klar zu machen, wie Russland auf die Tatsache reagieren würde, wenn Österreich-Ungarn Forderungen an Serbien stellen würde, die mit der Würde des Staates nicht annehmbar sind.
Zudem war es den Russen gelungen, die Verschlüsselung der österreichisch-ungarischen Diplomatenpost zu brechen. Aus zwei abgefangenen Telegrammen, die den Termin der Abreise der französischen Delegation behandelten, ließen sich Rückschlüsse auf die Absichten Berchthold’s ziehen.
Der Stabschef des russischen Außenminister, Baron Moritz Schilling war von seiner Stellung her mit Hoyos in Wien und Zimmermann in Berlin vergleichbar. Er hatte bereits vor Eingang der Informationen von Schebeko eigene Überlegungen zum möglichen österreichisch-ungarischen Vorgehen angestellt, nachdem er ein Gespräch mit Maquis Andrea Carlotti di Riparbella, dem italienischen Botschafter in St. Petersburg, geführt hatte. In diesem Gespräch brachte Schillig seine Überzeugung zum Ausdruck, daß die Überzeugung Österreich-Ungarns, den Konflikt lokalisieren zu können, abwegig sei und Russland nach seiner Einschätzung nicht gewillt sei, eine Demütigung Serbiens hinzunehmen. Er vertrat gegenüber Carlotti die Auffassung, daß eine russische Warnung an Wien als Provokation oder Ultimatum aufgefaßt werden könne und zu einer weiteren Verschärfung der Situation beitragen könne. Seine Empfehlung war, daß eine der mit Österreich-Ungarn verbündeten Nationen, also Deutschland oder Italien, eine entsprechende Warnung an Wien übermittel sollte.
Am 18. Juli 1914 kehrte der russische Außenminister von einer Reise auf das Land zurück und wurde von seinem Stabschef über das Telegramm von Schebeko und das Gespräch mit Carlotti informiert. Dies geschah in Vorbereitung auf ein für 11:00 Uhr festgesetzten Gesprächstermin, der auf Wunsch des österreichisch-ungarischen Botschafters in St. Petersburg, Graf Friedrich Szapary zustande kam.
Dabei versuchte Szapary herauszufinden, ob die Russen etwas von den österreichisch-ungarischen Absichten wissen und wenn ja was, während der russische Außenminister das Thema umging und jede Andeutung vermied, daß er über die Wiener Absichten bereits im Bilde war.
Nur acht Stunden nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub und ca. 24. Stunden vor dem Gipfeltreffen der russisch-französischen Allinanz mit dem französischen Präsidenten Poincare und den Premieminister Rene Viviani zog der russische Außenminister bereits militärische Maßnahmen als Antwort an ein österreichisch-ungarisches Ultimatum an Serbien in Betracht.
Am folgenden Tag informierte er den Zar Nikolaus II.
Der Plan Berchthold’s war zu diesem Zeitpunkt bereits hinfällig.